Warum ich Israel kritisiere
Beitrag von Alfred Grosser
Ich wurde als Jude von den Deutschen verachtet – und glaubte nach Auschwitz doch an unsere gemeinsame Zukunft. Ich verstehe nicht, dass Juden heute andere verachten und sich das Recht nehmen, im Namen der Selbstverteidigung unbarmherzig Politik zu betreiben. Verständnis für die Leiden der anderen – gilt dieser Grundwert Europas nicht erst recht für Israel?
Es ist schon ein Zeichen, dass man sich bei einem solchen Thema ausweisen muss. Ich lege aber sowieso Wert darauf, die biographischen Grundlagen meiner harten Beurteilung der Politik Israels zu zeigen. Ich bin am 1. Februar 1925 in Frankfurt geboren. Beide Eltern und die vier Großeltern waren Juden, mein Vater Kinderarzt, Professor an der Universität, Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse wegen Kriegseinsatz von 1914 bis 1918, Freimaurer, aber Hitler reduzierte seine Identität auf die jüdische.
Mit Frau und beiden Kindern zog er im Dezember 1933 nach Frankreich und starb am 7. Februar 1934 bei Paris. Meine Schwester ist im April 1941 in Südfrankreich an einer Blutvergiftung gestorben, die sie sich bei unserer Radflucht vor den Deutschen zugezogen hatte. Im August 1944 hörte ich BBC in Marseille, wo ich mit falschem Ausweis lebte und erfuhr, dass die ehemaligen Insassen des KZ Theresienstadt nach Auschwitz transportiert worden waren – unter ihnen wahrscheinlich die Schwester meines Vaters und ihr Gatte. Am nächsten Morgen war ich sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt, seien die Henker noch so zahlreich und die Verbrechen noch so maßlos. Schon 1937 war meine Mutter mit ihren beiden Kindern französische Staatsbürgerin geworden.
Bei Kriegsende fühlte ich mich verpflichtet – gerade weil ich ein Überlebender war –, am demokratischen Wiederaufbau des besiegten Deutschlands teilzunehmen. Nicht im Sinne einer „deutsch-französischen Versöhnung“. Als ich 1947 als französischer Journalist meine Geburtsstadt besuchte, interviewte ich den Oberbürgermeister Walter Kolb. Er war ehemaliger Buchenwald-Häftling. Ich hatte mich nicht mit ihm zu „versöhnen“. Wir hatten eine gemeinsame Verantwortung für die deutsche Zukunft.
Dazu gehörte natürlich die Bekämpfung jeglichen alten und neuen Antisemitismus. Ich habe in Regensburg (im Reichssaal, nicht an der Uni) wenige Tage nach dem Papst gesprochen und warf ihm vor, in seinem Vortrag (wie auch davor in seiner -Auschwitz-Rede) kein Wort über den christlichen Antisemitismus, über die Verfolgungen, die Ghettobejahungen, die Verbrennungen gesagt zu haben. Ich erwähne stets die schöne Geste von Friedrich Schorlemmer und seinen Freunden, die in der Lutherstadt Wittenberg eine Auschwitz-Erinnerungstafel errichtet haben – unter der Sau, die an der Kirche die Synagoge darstellt. Und ich zeige so oft es geht den Band von Joël und Dan Kotek „Au nom de l’antisionisme“ (2003), der eine Sammlung furchtbarer antisemitischer Karikaturen – im Stürmer-Stil – der arabischen Presse enthält.
Aber ich trete auch ständig dafür ein, das Positive zu erwähnen. Zum Beispiel, dass zwei Drittel der Juden in Frankreich nicht deportiert wurden, weil sie von unzähligen nichtjüdischen Franzosen versteckt wurden, u.a. von katholischen und evangelischen Gruppen und Organisationen. Auch in Deutschland gab es viel Hilfe. Ich war froh, im Jahr 2005 das beeindruckende Buch von Konrad Löw „Das Volk war ein Trost. Deutsche und Juden 1933–1945 im Urteil jüdischer Zeitgenossen“ in München vorstellen zu dürfen. Daraufhin bekam ich eine Aufforderung von FOCUS, eine Rezension für das Wochenmagazin zu schreiben. Was ich auch tat. Erschienen ist sie nicht: Ich wurde aufgefordert, den letzten Absatz zu streichen, was ich natürlich ablehnte. Er lautete: „In seiner guten, richtigen, mutigen Beweisführung lässt Löw zwei Fragen beiseite, die der Rezensent doch das Recht hat, klarzustellen. ‚Was bedeutet Feigheit heute?‘ Eine mögliche und treffende Antwort gibt Rupert Neudeck in seinem jüngsten Buch ‚Ich will nicht mehr schweigen. Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina‘ (2005). Gerade weil so viele Deutsche damals nicht feige waren, darf ein heutiger Deutscher die Gefahr laufen, als Antisemit zu gelten, wenn er auf das schlimme Los der Einwohner von Gaza, von Westjordanien oder von Ostjerusalem hinweist. Die andere Frage lautet: ‚Eben weil es die mutige Hilfe für Juden in Deutschland gegeben hat, ist es nicht eine Verpflichtung der heutigen Juden, an das Schicksal anderer Unterdrückter und Verachteter zu denken?‘ In diesem Sinne handelt ein Mann wie Daniel Barenboim. Oder der Verein ‚Rabbiner für Menschenrechte‘, dem soeben in Tokio der Friedenspreis der Niwano Stiftung zugesprochen worden ist.“
Die FOCUS-Zensur war nicht so schlimm wie die Geschehnisse von Frankfurt. Das Buch von Rupert Neudeck sollte dort am 20. Januar 2006 vorgestellt werden. Aber der Evangelische Regionalverband sperrte den zur Verfügung gestellten Kirchenraum der Heilig Geist Kirche, weil er sich von dem Aufruf Arno Lustigers einschüchtern ließ. Dieser hatte seine Freunde aufgefordert, mit „Israel-Fahnen zu dieser verachtungswürdigen Veranstaltung zu gehen und dort für das Existenzrecht Israels und gegen die sich ständig wiederholenden Verleumdungskampagnen dieser eigentümlichen Gestalten zu argumentieren und zu demonstrieren, sowohl vor dem Veranstaltungsort, wie aber auch während der Veranstaltung“. Die „Gestalten“, das waren Rupert Neudeck, der gerade aus Afghanistan zurückkam, wo er den Bürgermeister der Stadt Herat dazu gebracht hatte, am Erhalt der dort letzten altwürdigen Synagogen mitzuwirken, und der alte KZ-Überlebende Abraham Melzer, der, laut Arno Lustiger, „auf ähnliche unrühmliche Art und Weise immer wieder auf sich aufmerksam gemacht hat“.
Quelle:Internationalepolitik.de
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