Der Vortrag, den Mamadou Ndiaye, Deutschlehrer an der Militärschule
von Saint-Louis in Senegal am 19. September 2012 im Wiener
Afroasiatischen Institut über die Lebensbedingungen der Straßenkinder in
Saint-Louis hielt, gab einen beeindruckenden Ansatz, darüber
nachzudenken. Am Beispiel der dortigen Koranschüler (Talibés), die häufig von ihrem Koranlehrer (Marabus)
ausgebeutet, misshandelt und zum Betteln gezwungen werden, stellte er
den Abgrund des Elends und der Menschenrechtsverletzungen an Kindern in
seinem Land bloß. Ohne Umschweifen machte Mamadou Ndiaye klar, dass die
Regierung Senegals dieses Problem aus Geldmangel nicht im Griff hat und
dass Projekte, mit denen dieser Geldmangel angegangen werden sollte,
bisher gescheitert sind. Er selbst versucht, diesen Kindern durch seinen
Verein „Centre Jardin d’Espoir“ (Zentrum Garten der Hoffnung) zu helfen
und wird dabei durch die österreichische NRO „Amina“ unterstützt. Dass
es sich dabei, leider, nur um einen Tropfen auf dem heißen Stein
handelt, dass zumindest eine humanitäre Erste Hilfe an einer kleinen
Anzahl von Betroffenen geleistet werden konnte, für die Beseitigung
dieses sozialen Problems aber nicht ausreicht, war schwer zu übersehen.
In
unserer finsteren, grausamen, inhumanen und sozial kalten Welt scheint
scheinbar doch ein Licht: Die NRO, d. h. die
Nichtregierungsorganisationen! Zumindest von unten mobilisieren sich
Menschen guten Willens, um das Leid derjenigen, die in Not geraten sind,
zu lindern. Die unzähligen Bettelbriefe, die man haufenweise fast
täglich in seinem Postkasten findet, zeigen, dass das Gefühl für die
Solidarität noch nicht verschwunden ist. Zwar fragt man sich, warum
trotz des Einsatzes dieser Organisationen immer mehr Menschen in Not
geraten, warum trotz ihres Wirkens der Graben zwischen den Superreichen
und Superarmen immer tiefer wird und warum sich die Verhältnisse in der
Gesellschaft – auch auf globaler Ebene – nicht verbessern sondern
ständig verschlechtern? Ist es möglich, dass so genannte
Nichtregierungsorganisationen (NRO), deren Zahl ständig wächst, nicht
imstande sind, diese Entwicklung zu stoppen?
Ein trügerisches Licht ?
Wenn man weiß, dass in den Entwicklungsländern Myriaden solcher
Organisationen tätig sind, dass es z. B. in Indien mehr NRO als Schulen
gibt, dann stellt sich auch die Frage, ob dabei nicht doch etwas schief
läuft. Offensichtlich ist Quantität hier nicht gleich Qualität. Jede NRO
agiert in Ermangelung einer wirkungsvollen Koordination für sich
selbst. Jede hat ihre eigene Infrastruktur, Zielsetzung, Bürokratie und
Werbungsaktivität. Dass dies mit entsprechenden Kosten verbunden ist,
ist klar. Dass sie an Geldmangel leiden, ebenfalls. Doch wessen Aufgabe
ist es, den Wohlstand der Gesellschaft zu fördern? Der NRO oder der
staatlichen bzw. internationalen Institutionen?
Ein Vortrag zum Nachdenken
Die Situation ist aber alarmierend und Mamadou Ndiaye machte daraus
keinen Hehl. Er wies darauf hin, dass es in Senegal die Schulpflicht
gebe und dass alle Kinder bis zu ihrem 16. Lebensjahr die Schule
besuchen müssten. Aber leider, wie er weiter erzählte, mache die in
Senegal herrschende Armut diese Pflicht zunichte. Das Bild, das er von
der Lage der Koranschüler in Senegal malte, ist mehr als düster. Viele
Familien können sich die Schulkosten nicht leisten und deshalb schicken
sie ihre Kinder nicht in die Schule, sondern in den Koranschulen (Daara)
oder einfach zu irgendwelchem Marabu, damit sie zumindest auf diese
Weise irgendeine Ausbildung bekommen können. Doch wie sieht diese
Erziehung aus? Sie beschränkt sich auf das Auswendiglernen von
Koransuren auf Arabisch, eine Sprache, die diese Kinder nicht kennen.
Die meiste Zeit werden die Talibés, von denen manche nur vier
Jahre alt sind, entweder zur Arbeit bei ihrem Koranlehrer eingesetzt
oder einfach auf die Straße geschickt, um zu…betteln! Sie müssen oft
zehn oder mehr Stunden betteln, um sich auf diese Weise „in Demut“ zu
üben und müssen das erbettelte Geld ihrem Lehrer bringen. Wehe jenen,
die dem Lehrer nicht genug Geld bringen. Gewöhnlich sind Körperstrafen
(Prügeln und Fesseln inklusive) die Folge. Nur eine geringere Zahl kann
in einer Daara (Koranschule) schlafen. Aber auch dann werden oft
bis zu 30 Kinder in einem Raum zusammengepfercht. Die mangelnde Hygiene
und das verseuchte Wasser fördern die Verbreitung von Krankheiten –
Malaria und Magen-Darm Erkrankungen sind am häufigsten.
Um diese Situation zu mildern, setzt sich das „Centre Jardin
d’Espoir“ dafür ein, dass Koranschüler in ihren Einrichtungen die
Möglichkeit haben, ein Essen zu bekommen, sich zu waschen und
medizinisch versorgt zu werden. Zusammen mit „Amina“ werden bei den
Talibés auch Sozialarbeiter engagiert und sportliche Aktivitäten
gefördert. Dieser Einsatz verdient selbstverständlich Anerkennung.
Dennoch muss man sich fragen, warum weder der Staat noch die dazu
gegründeten UNO-Organisationen nichts unternehmen, um dieses Problem
radikal zu beenden. Es ist kein Geheimnis, dass Senegal ein armes Land
ist. Aber war es in einigen europäischen Staaten nach dem zweiten
Weltkrieg besser? Nehmen wir das Beispiel eines der Rückständigsten von
ihnen: Das ehemalige Jugoslawien. Das Land war zerstört, seine
Infrastruktur vernichtet, bis in die Sechzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts gab es nur eine einzige gepflasterte einspurige Autostraße,
die Belgrad und Zagreb verband. Die meisten Dörfer waren von der
Außenwelt abgeschnitten. Und dennoch: Es gab eine Schulpflicht, die
Schule war gratis, in der Schule wurden Schmalzbrot und Milch als Jause
an die Schüler verteilt und die Schüler wurden regelmäßig gratis gegen
die häufigsten Seuchen geimpft. Das Schulschwänzen wurde polizeilich
verfolgt und keine private Person durfte die Schulpflicht ersetzen, auch
nicht die Koranschüler und Koranlehrer in den muslimischen Gebieten.
Warum ist das gelungen? Weil Jugoslawien ein europäisches Land war, wo
eine andere Kultur herrschte? Bestimmt nicht. Es herrschte ein anderes
wirtschaftliches und soziales System. Ein kommunistisches. Das Land war
zwar bitterarm, aber die Einnahmen des Staates sind weder in den
ausländischen Banken geflossen, noch an den Börsen verspekuliert worden.
Die Wirtschaft war durch Steuern und Zölle geschützt. Keine
multinationalen Unternehmen haben die Rohstoffe des Landes ausgebeutet.
Es gab keine Privatisierung und keine strukturelle Anpassungsmaßnahmen.
Zwar funktionierte in diesem System nicht alles wie es sollte, doch es
wurden Maßnahmen angewendet, die sich bei der Abschaffung von Hunger,
Elend und Analphabetismus als effizient erwiesen. Schließlich konnte
Jugoslawien seinen Bürgern den Weg zu einem wachsenden Wohlstand ebnen.
Der Sozialstaat und die strikte Anwendung von Gesetzen im Bereich der
Erziehung haben es möglich gemacht.
Die große Herausforderung: Erste-Hilfe-Leistung oder Heilung?
Das ehemalige Jugoslawien war in dieser Hinsicht kein Sonderfall.
Viele andere Staaten haben diesen Weg verfolgt, ohne dabei ihre
Identität zu verleugnen. Erst durch das Aufzwingen des neoliberalen
Konzepts als herrschendes Weltsystem hat sich das Blatt gewendet. Seit
dann ist das Recht auf und die Pflicht zum Schulbesuch ein Luxus
geworden, den sich arme Länder nicht mehr leisten bzw. erlauben dürfen,
zumindest bis sie ihre horrenden Schulden mit exorbitanten Zinsen
zurückgezahlt haben. Das ist die Wille der „internationalen
Gemeinschaft“ und internationalen Finanzorganisationen. Für sie zählt
nur das Wirtschaftswachstum d. h. das Geschäftemachen und nicht der
„unproduktive“ allgemeine soziale Wohlstand. Allgemeine kostenlose
Schulpflicht noch weniger. Dass dies faktisch den Rückfall in die
geistige Rückständigkeit bedeutet und daher ein Verbrechen gegen die
Menschheit sowie die Menschlichkeit darstellt, kümmert offensichtlich
niemanden. Leider erheben angesichts dieses Problems auch die NRO ihre
Stimme nicht laut genug. Die Abhängigkeit von Sponsoren verpflichtet…
Die Behandlung von Koranschülern in Senegal ist ein drastisches
Beispiel für ein solches Vergehen. Dies geschieht unter den Augen der
senegalesischen Behörden und voller Gleichgültigkeit seitens der
angeblich demokratischen „internationalen Gemeinschaft“ und der
zuständigen UNO-Organisationen, angefangen von UNICEF, von UNESCO, von
der Internationalen Arbeitsorganisation, aber auch von den zuständigen
NRO. Was haben sie bisher gemacht, um dieses Problem zu bekämpfen? Im
Internet kann man dazu einen Bericht von Human Rights Watch finden mit
einigen Empfehlungen an die Regierung, sonst nichts. Die NRO – man
könnte zu diesem Schluss auch aufgrund der Diskussion nach dem Vortrag
von Mamadou Ndiaye kommen – weisen offensichtlich jede Kritik von sich.
Es scheint, als ob sie sich damit begnügen, etwas im Mikrobereich getan
zu haben und hoffen, dass dadurch die zwar langsame aber stetige Heilung
der ganzen Gesellschaft herbeigeführt wird. Von einer kritischen
Betrachtung der Verantwortung des neoliberalen Systems für die
fortschreitende Verarmung von Menschen weltweit und über die
Notwendigkeit, es nicht nur zu bekämpfen, sondern auch mit einem
humaneren und sozialeren System zu ersetzen, sind sie, leider, immer
noch weit entfernt.
Den NRO muss endlich klar werden: Solange die existierende inhumane
Gesellschaft nicht abgeschafft wird, wird auch ihr humaner Einsatz
eigentlich unwirksam bleiben. Sie kommt einer Notfallhilfe gleich. Das
verdient Anerkennung, reicht aber für die vollständige Heilung der
Gesellschaft nicht aus. Dafür müssen entsprechende Einrichtungen
vorhanden sein, die die Heilung ermöglichen können. Doch die NRO
scheinen sich damit abgefunden zu haben, dass die Einrichtungen, die
sich um das Wohl der Bürger, ja der Menschheit kümmern sollen,
abgeschafft werden. Sie trösten sich damit, dass durch die Mobilisierung
der Öffentlichkeit und das Verständnis für die „anderen Kulturen“ die
Lage in den armen Ländern sich stufenweise verbessern wird. Aber wie
viele Menschen werden dafür mit ihrem Leiden, ihrer Gesundheit und ihrem
Leben bezahlen? Vielleicht ganze Generationen! Ist das aber auch human?
Die Makel der Kollaboration
Falls den NRO wirklich die Menschheit am Herzen liegt, dann müssen
sie dazu stehen. Sollten sie weiterhin davor zurückschrecken, auf die
wahren Ursachen von sozialen Problemen hinzuweisen, sei es in Industrie-
oder Entwicklungsländern, dann fördern sie nicht den allgemeinen
wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Fortschritt, sondern behindern
ihn. Statt den Menschen in Not zu dienen, tragen sie dazu bei, die Macht
des Neoliberalismus zu festigen, was eigentlich nichts anderes als ein
reiner monetärer Faschismus ist. Das kommt einer Kollaboration mit
diesem inhumanen System gleich, deren Folge der Verlust ihrer
Glaubwürdigkeit sein wird. Hilfe zu fordern für Koranschüler und dubiose
Koranlehrer in Senegal, statt sich für ihr gesetzliches Verbot
einzusetzen und die Einführung einer gebührenfreien Schulpflicht zu
fordern, bedeutet nichts anderes als die Beibehaltung eines
anachronistischen Erziehungssystems zu unterstützen, das dazu führt, die
geistige Rückständigkeit der senegalesischen Gesellschaft zu festigen.
Mit ungebildeten Marabus werden, wie das beim Vortrag von Mamadou Ndiaye
eine muslimische Diskutantin bemerkte, keine gebildeten jungen Menschen
hervorgebracht, die ihre Religion als Bestandteil einer humanen
menschlichen Ethik betrachten, sondern potenzielle Opfer aller denkbaren
extremistischen, ideologischen und fundamentalistischen Strömungen, die
von irgendwelchen Demagogen und Mächten für eigene Machtzwecke
missbraucht werden.
"Legen Sie Ihre Seele...wir waschen Ihr Gewissen"-LaRataGris
Wenn aber die NRO wirklich den Interessen der Gesellschaft dienen
wollen, dann müssen sie sich neben ihrer Hilfeleistung auch für die
Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf Makroebene
engagieren. Wollen sie dabei effizient werden, dann müssen sie ihre
Tätigkeit koordinieren, sie müssen gemeinsam auftreten und sich von
ihrer Zersplitterung abwenden. Außerdem müssen sie gemeinsam
internationale Organisationen ansprechen, die Intellektuellen
mobilisieren, Unterschriftenaktionen in die Wege leiten und sich durch
den Einsatz für die Bekämpfung des Neoliberalismus des Makels der
Kollaboration mit diesem menschenfeindlichem Weltsystem, das die
Menschheit in den Abgrund führt, entledigen. Dafür braucht man aber
nicht nur Zivilcourage, sondern vor allem den Mut, die eigene Wirkung
selbstkritisch zu betrachten, die Bereitschaft, über argumentierte
Kritiken nachzudenken und den Willen, die Gesellschaft voranzubringen,
statt sie mit einem Verweis auf politisiert ausgelegte Begriffe wie
Toleranz oder Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur zu lähmen. Kultur
ist, übrigens, keine statische, sondern eine dynamische Kategorie, die
nicht der kollektiven Identifikation, sondern der Bereicherung des
Geistes dienen soll. Die Gleichsetzung der Kultur oder der Religion mit
Kulten, Ritualen oder Bräuchen führt aber zur Verarmung des Geistes und
zur sozialen Rückständigkeit. Will man eine humane Gesellschaft
erreichen, dann muss man daran arbeiten. Die Gesellschaft entwickelt
sich nicht von selbst, sondern wird von denjenen vorangetrieben, die
dafür die notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen (moralische und
ethische ebenfalls) besitzen. Andernfalls droht der Menschheit die
Gefahr, in den Zustand einer Raubtiergesellschaft zurückgeworfen zu
werden.
Leider ist unsere schöne neue Welt bereits weit in diese Richtung
gerutscht. Doch sind die NRO bereit, dagegen zu steuern oder werden sie
weiter darauf beharren, dass es unter Zusammenarbeit mit den Raubtieren
des neoliberalen Systems noch möglich ist, durch humanitäre Initiativen
auf Mikroebene Änderungen auf Makroebene zu erreichen und das dies
ausreicht, um die sozialen Verhältnisse zu ändern? Und wenn ja, ob es
moralisch ist, ganze Generationen von Menschen zu opfern, um dies zu
erreichen? Vielleicht muss man auf beidenen Ebenen gleichzeitig wirken,
sonst könnte es geschehen, dass die Erste Hilfe, die NRO als faktische
Kollaborateure des Neoliberalismus unterm Deckmantel der Humanität
Menschen in Not leisten, für die Gesellschaft keine Heilung darstellt,
sondern ihre Sterbehilfe ist.
Quelle: http://www.tlaxcala-int.org/
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