Mittwoch, 28. November 2012

NGOs: Erste Hilfe oder Sterbehilfe?

 NGOs: Erste Hilfe oder Sterbehilfe?
Vladislav Marjanović


 
Der Vortrag, den Mamadou Ndiaye, Deutschlehrer an der Militärschule von Saint-Louis in Senegal am 19. September 2012 im Wiener Afroasiatischen Institut über die Lebensbedingungen der Straßenkinder in Saint-Louis hielt, gab einen beeindruckenden Ansatz, darüber nachzudenken. Am Beispiel der dortigen Koranschüler (Talibés), die häufig von ihrem Koranlehrer (Marabus) ausgebeutet, misshandelt und zum Betteln gezwungen werden, stellte er den Abgrund des Elends und der Menschenrechtsverletzungen an Kindern in seinem Land bloß. Ohne Umschweifen machte Mamadou Ndiaye klar, dass die Regierung Senegals dieses Problem aus Geldmangel nicht im Griff hat und dass Projekte, mit denen dieser Geldmangel angegangen werden sollte, bisher gescheitert sind. Er selbst versucht, diesen Kindern durch seinen Verein „Centre Jardin d’Espoir“ (Zentrum Garten der Hoffnung) zu helfen und wird dabei durch die österreichische NRO „Amina“ unterstützt. Dass es sich dabei, leider, nur um einen Tropfen auf dem heißen Stein handelt, dass zumindest eine humanitäre Erste Hilfe an einer kleinen Anzahl von Betroffenen geleistet werden konnte, für die Beseitigung dieses sozialen Problems aber nicht ausreicht, war schwer zu übersehen.
In unserer finsteren, grausamen, inhumanen und sozial kalten Welt scheint scheinbar doch ein Licht: Die NRO, d. h. die Nichtregierungsorganisationen! Zumindest von unten mobilisieren sich Menschen guten Willens, um das Leid derjenigen, die in Not geraten sind, zu lindern. Die unzähligen Bettelbriefe, die man haufenweise fast täglich in seinem Postkasten findet, zeigen, dass das Gefühl für die Solidarität noch nicht verschwunden ist. Zwar fragt man sich, warum trotz des Einsatzes dieser Organisationen immer mehr Menschen in Not geraten, warum trotz ihres Wirkens der Graben zwischen den Superreichen und Superarmen immer tiefer wird und warum sich die Verhältnisse in der Gesellschaft – auch auf globaler Ebene – nicht verbessern sondern ständig verschlechtern? Ist es möglich, dass so genannte Nichtregierungsorganisationen (NRO), deren Zahl ständig wächst, nicht imstande sind, diese Entwicklung zu stoppen?



                                    Ein trügerisches Licht ?


Wenn man weiß, dass in den Entwicklungsländern Myriaden solcher Organisationen tätig sind, dass es z. B. in Indien mehr NRO als Schulen gibt, dann stellt sich auch die Frage, ob dabei nicht doch etwas schief läuft. Offensichtlich ist Quantität hier nicht gleich Qualität. Jede NRO agiert in Ermangelung einer wirkungsvollen Koordination für sich selbst. Jede hat ihre eigene Infrastruktur, Zielsetzung, Bürokratie und Werbungsaktivität. Dass dies mit entsprechenden Kosten verbunden ist, ist klar. Dass sie an Geldmangel leiden, ebenfalls. Doch wessen Aufgabe ist es, den Wohlstand der Gesellschaft zu fördern? Der NRO oder der staatlichen bzw. internationalen Institutionen?
 

Ein Vortrag zum Nachdenken


 
 
Die Situation ist aber alarmierend und Mamadou Ndiaye machte daraus keinen Hehl. Er wies darauf hin, dass es in Senegal die Schulpflicht gebe und dass alle Kinder bis zu ihrem 16. Lebensjahr die Schule besuchen müssten. Aber leider, wie er weiter erzählte, mache die in Senegal herrschende Armut diese Pflicht zunichte. Das Bild, das er von der Lage der Koranschüler in Senegal malte, ist mehr als düster. Viele Familien können sich die Schulkosten nicht leisten und deshalb schicken sie ihre Kinder nicht in die Schule, sondern in den Koranschulen (Daara) oder einfach zu irgendwelchem Marabu, damit sie zumindest auf diese Weise irgendeine Ausbildung bekommen können. Doch wie sieht diese Erziehung aus? Sie beschränkt sich auf das Auswendiglernen von Koransuren auf Arabisch, eine Sprache, die diese Kinder nicht kennen. Die meiste Zeit werden die Talibés, von denen manche nur vier Jahre alt sind, entweder zur Arbeit bei ihrem Koranlehrer eingesetzt oder einfach auf die Straße geschickt, um zu…betteln! Sie müssen oft zehn oder mehr Stunden betteln, um sich auf diese Weise „in Demut“ zu üben und müssen das erbettelte Geld ihrem Lehrer bringen. Wehe jenen, die dem Lehrer nicht genug Geld bringen. Gewöhnlich sind Körperstrafen (Prügeln und Fesseln inklusive) die Folge. Nur eine geringere Zahl kann in einer Daara (Koranschule) schlafen. Aber auch dann werden oft bis zu 30 Kinder in einem Raum zusammengepfercht. Die mangelnde Hygiene und das verseuchte Wasser fördern die Verbreitung von Krankheiten – Malaria und Magen-Darm Erkrankungen sind am häufigsten.
 
 
Um diese Situation zu mildern, setzt sich das „Centre Jardin d’Espoir“ dafür ein, dass Koranschüler in ihren Einrichtungen die Möglichkeit haben, ein Essen zu bekommen, sich zu waschen und medizinisch versorgt zu werden. Zusammen mit „Amina“ werden bei den Talibés auch Sozialarbeiter engagiert und sportliche Aktivitäten gefördert. Dieser Einsatz verdient selbstverständlich Anerkennung. Dennoch muss man sich fragen, warum weder der Staat noch die dazu gegründeten UNO-Organisationen nichts unternehmen, um dieses Problem radikal zu beenden. Es ist kein Geheimnis, dass Senegal ein armes Land ist. Aber war es in einigen europäischen Staaten nach dem zweiten Weltkrieg besser? Nehmen wir das Beispiel eines der Rückständigsten von ihnen: Das ehemalige Jugoslawien. Das Land war zerstört, seine Infrastruktur vernichtet, bis in die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts gab es nur eine einzige gepflasterte einspurige Autostraße, die Belgrad und Zagreb verband. Die meisten Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten. Und dennoch: Es gab eine Schulpflicht, die Schule war gratis, in der Schule wurden Schmalzbrot und Milch als Jause an die Schüler verteilt und die Schüler wurden regelmäßig gratis gegen die häufigsten Seuchen geimpft. Das Schulschwänzen wurde polizeilich verfolgt und keine private Person durfte die Schulpflicht ersetzen, auch nicht die Koranschüler und Koranlehrer in den muslimischen Gebieten. Warum ist das gelungen? Weil Jugoslawien ein europäisches Land war, wo eine andere Kultur herrschte? Bestimmt nicht. Es herrschte ein anderes wirtschaftliches und soziales System. Ein kommunistisches. Das Land war zwar bitterarm, aber die Einnahmen des Staates sind weder in den ausländischen Banken geflossen, noch an den Börsen verspekuliert worden. Die Wirtschaft war durch Steuern und Zölle geschützt. Keine multinationalen Unternehmen haben die Rohstoffe des Landes ausgebeutet. Es gab keine Privatisierung und keine strukturelle Anpassungsmaßnahmen. Zwar funktionierte in diesem System nicht alles wie es sollte, doch es wurden Maßnahmen angewendet, die sich bei der Abschaffung von Hunger, Elend und Analphabetismus als effizient erwiesen. Schließlich konnte Jugoslawien seinen Bürgern den Weg zu einem wachsenden Wohlstand ebnen. Der Sozialstaat und die strikte Anwendung von Gesetzen im Bereich der Erziehung haben es möglich gemacht.
 
 Die große Herausforderung: Erste-Hilfe-Leistung oder Heilung?
Das ehemalige Jugoslawien war in dieser Hinsicht kein Sonderfall. Viele andere Staaten haben diesen Weg verfolgt, ohne dabei ihre Identität zu verleugnen. Erst durch das Aufzwingen des neoliberalen Konzepts als herrschendes Weltsystem hat sich das Blatt gewendet. Seit dann ist das Recht auf und die Pflicht zum Schulbesuch ein Luxus geworden, den sich arme Länder nicht mehr leisten bzw. erlauben dürfen, zumindest bis sie ihre horrenden Schulden mit exorbitanten Zinsen zurückgezahlt haben. Das ist die Wille der „internationalen Gemeinschaft“ und internationalen Finanzorganisationen. Für sie zählt nur das Wirtschaftswachstum d. h. das Geschäftemachen und nicht der „unproduktive“ allgemeine soziale Wohlstand. Allgemeine kostenlose Schulpflicht noch weniger. Dass dies faktisch den Rückfall in die geistige Rückständigkeit bedeutet und daher ein Verbrechen gegen die Menschheit sowie die Menschlichkeit darstellt, kümmert offensichtlich niemanden. Leider erheben angesichts dieses Problems auch die NRO ihre Stimme nicht laut genug. Die Abhängigkeit von Sponsoren verpflichtet…
 
Die Behandlung von Koranschülern in Senegal ist ein drastisches Beispiel für ein solches Vergehen. Dies geschieht unter den Augen der senegalesischen Behörden und voller Gleichgültigkeit seitens der angeblich demokratischen „internationalen Gemeinschaft“ und der zuständigen UNO-Organisationen, angefangen von UNICEF, von UNESCO, von der Internationalen Arbeitsorganisation, aber auch von den zuständigen NRO. Was haben sie bisher gemacht, um dieses Problem zu bekämpfen? Im Internet kann man dazu einen Bericht von Human Rights Watch finden mit einigen Empfehlungen an die Regierung, sonst nichts. Die NRO – man könnte zu diesem Schluss auch aufgrund der Diskussion nach dem Vortrag von Mamadou Ndiaye kommen – weisen offensichtlich jede Kritik von sich. Es scheint, als ob sie sich damit begnügen, etwas im Mikrobereich getan zu haben und hoffen, dass dadurch die zwar langsame aber stetige Heilung der ganzen Gesellschaft herbeigeführt wird. Von einer kritischen Betrachtung der Verantwortung des neoliberalen Systems für die fortschreitende Verarmung von Menschen weltweit und über die Notwendigkeit, es nicht nur zu bekämpfen, sondern auch mit einem humaneren und sozialeren System zu ersetzen, sind sie, leider, immer noch weit entfernt.
 
Den NRO muss endlich klar werden: Solange die existierende inhumane Gesellschaft nicht abgeschafft wird, wird auch ihr humaner Einsatz eigentlich unwirksam bleiben. Sie kommt einer Notfallhilfe gleich. Das verdient Anerkennung, reicht aber für die vollständige Heilung der Gesellschaft nicht aus. Dafür müssen entsprechende Einrichtungen vorhanden sein, die die Heilung ermöglichen können. Doch die NRO scheinen sich damit abgefunden zu haben, dass die Einrichtungen, die sich um das Wohl der Bürger, ja der Menschheit kümmern sollen, abgeschafft werden. Sie trösten sich damit, dass durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit und das Verständnis für die „anderen Kulturen“ die Lage in den armen Ländern sich stufenweise verbessern wird. Aber wie viele Menschen werden dafür mit ihrem Leiden, ihrer Gesundheit und ihrem Leben bezahlen? Vielleicht ganze Generationen! Ist das aber auch human?

Die Makel der Kollaboration

Falls den NRO wirklich die Menschheit am Herzen liegt, dann müssen sie dazu stehen. Sollten sie weiterhin davor zurückschrecken, auf die wahren Ursachen von sozialen Problemen hinzuweisen, sei es in Industrie- oder Entwicklungsländern, dann fördern sie nicht den allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Fortschritt, sondern behindern ihn. Statt den Menschen in Not zu dienen, tragen sie dazu bei, die Macht des Neoliberalismus zu festigen, was eigentlich nichts anderes als ein reiner monetärer Faschismus ist. Das kommt einer Kollaboration mit diesem inhumanen System gleich, deren Folge der Verlust ihrer Glaubwürdigkeit sein wird. Hilfe zu fordern für Koranschüler und dubiose Koranlehrer in Senegal, statt sich für ihr gesetzliches Verbot einzusetzen und die Einführung einer gebührenfreien Schulpflicht zu fordern, bedeutet nichts anderes als die Beibehaltung eines anachronistischen Erziehungssystems zu unterstützen, das dazu führt, die geistige Rückständigkeit der senegalesischen Gesellschaft zu festigen. Mit ungebildeten Marabus werden, wie das beim Vortrag von Mamadou Ndiaye eine muslimische Diskutantin bemerkte, keine gebildeten jungen Menschen hervorgebracht, die ihre Religion als Bestandteil einer humanen menschlichen Ethik betrachten, sondern potenzielle Opfer aller denkbaren extremistischen, ideologischen und fundamentalistischen Strömungen, die von irgendwelchen Demagogen und Mächten für eigene Machtzwecke missbraucht werden.
 
"Legen Sie Ihre Seele...wir waschen Ihr Gewissen"-LaRataGris
 
Wenn aber die NRO wirklich den Interessen der Gesellschaft dienen wollen, dann müssen sie sich neben ihrer Hilfeleistung auch für die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf Makroebene engagieren. Wollen sie dabei effizient werden, dann müssen sie ihre Tätigkeit koordinieren, sie müssen gemeinsam auftreten und sich von ihrer Zersplitterung abwenden. Außerdem müssen sie gemeinsam internationale Organisationen ansprechen, die Intellektuellen mobilisieren, Unterschriftenaktionen in die Wege leiten und sich durch den Einsatz für die Bekämpfung des Neoliberalismus des Makels der Kollaboration mit diesem menschenfeindlichem Weltsystem, das die Menschheit in den Abgrund führt, entledigen. Dafür braucht man aber nicht nur Zivilcourage, sondern vor allem den Mut, die eigene Wirkung selbstkritisch zu betrachten, die Bereitschaft, über argumentierte Kritiken nachzudenken und den Willen, die Gesellschaft voranzubringen, statt sie mit einem Verweis auf politisiert ausgelegte Begriffe wie Toleranz oder Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur zu lähmen. Kultur ist, übrigens, keine statische, sondern eine dynamische Kategorie, die nicht der kollektiven Identifikation, sondern der Bereicherung des Geistes dienen soll. Die Gleichsetzung der Kultur oder der Religion mit Kulten, Ritualen oder Bräuchen führt aber zur Verarmung des Geistes und zur sozialen Rückständigkeit. Will man eine humane Gesellschaft erreichen, dann muss man daran arbeiten. Die Gesellschaft entwickelt sich nicht von selbst, sondern wird von denjenen vorangetrieben, die dafür die notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen (moralische und ethische ebenfalls) besitzen. Andernfalls droht der Menschheit die Gefahr, in den Zustand einer Raubtiergesellschaft zurückgeworfen zu werden.
 
Leider ist unsere schöne neue Welt bereits weit in diese Richtung gerutscht. Doch sind die NRO bereit, dagegen zu steuern oder werden sie weiter darauf beharren, dass es unter Zusammenarbeit mit den Raubtieren des neoliberalen Systems noch möglich ist, durch humanitäre Initiativen auf Mikroebene Änderungen auf Makroebene zu erreichen und das dies ausreicht, um die sozialen Verhältnisse zu ändern? Und wenn ja, ob es moralisch ist, ganze Generationen von Menschen zu opfern, um dies zu erreichen? Vielleicht muss man auf beidenen Ebenen gleichzeitig wirken, sonst könnte es geschehen, dass die Erste Hilfe, die NRO als faktische Kollaborateure des Neoliberalismus unterm Deckmantel der Humanität Menschen in Not leisten, für die Gesellschaft keine Heilung darstellt, sondern ihre Sterbehilfe ist.
 
 
Quelle:  http://www.tlaxcala-int.org/

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