Sonntag, 6. Januar 2013

Noam Chomsky: Die meisten US-Intellektuellen sind moralisch verkommen

Noam Chomsky: Die meisten US-Intellektuellen sind moralisch verkommen

Professor Noam Chomsky, einer der prominentesten Kritiker der US-Außenpolitik, äußert sich in einem Interview im Magazin TORTURE zur Politik Bushs und Obamas und beklagt die moralische Verkommenheit vieler US-Intellektueller.

Sowohl die Demokraten als auch die Republikaner lassen foltern und morden und greifen damit die in 800 Jahren erkämpften Bürgerrechte an -

Von NOAM CHOMSKY und ERIC BAILEY, 2. Januar 2013 -

Eric Bailey: In den letzten vier Jahren hat sich Politik der USA - was die Menschenrechte angeht - einschneidend verändert. Einer der wenigen Fälle, in denen die Demokratische und die Republikanische Partei im Laufe der letzten vier Jahre zusammengearbeitet haben, war die Verabschiedung des National Defense Authorization Act / NDAA (des Gesetzes zur nationalen Verteidigung (1) im Jahr 2012. Mit diesem Gesetz wurde dem US-Militär die Macht gegeben, US-Bürger ohne Anklage, Gerichtsverhandlung oder ein anderes gesetzliches Verfahren unbegrenzt einzusperren; bis heute versucht die Obama-Regierung mit allen juristischen Tricks zu verhindern, dass ein Bundesgericht dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Auf Obamas Anordnung wurden ohne gerichtliche Überprüfung bereits drei zu Al-Qaida gehörende US-Bürger ermordet, darunter auch Anwar al-Awlaki (2) und sein 16-jähriger Sohn. Außerdem wird das Gefangenenlager in der Guantánamo Bay weiter benutzt, der Patriot Act (3) blieb in Kraft und die Befugnisse der Transportation Security Administration / TSA (4) wurden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit ausgeweitet.

Wie sehen Sie die Einstellung der US-Regierung zu den Menschenrechten in den letzten vier Jahren, und wie ist die Politik Obamas im Vergleich zu der seines Vorgängers George W. Bush zu bewerten?

Noam Chomsky: Obamas Politik ist der Bushs sehr ähnlich, es gibt nur geringe Unterschiede; das ist auch keine große Überraschung. Die Demokraten haben ja Bushs Politik unterstützt. Um sich als Partei (von den Republikanern) abzuheben, haben sie zwar manchmal opponiert, waren aber grundsätzlich mit Bushs Politik einverstanden, und es kann niemand überraschen, dass sie das auch heute noch sind. In mancher Hinsicht ist Obama sogar weiter als Bush gegangen. Der NDAA, den Sie erwähnt haben, wurde nicht von Obama in den Kongress eingebracht, und als dieses Gesetz verabschiedet wurde, sagte Obama, er billige es nicht und werde es nicht in Kraft setzen. Dann hat er aber auf ein Veto verzichtet und den NDAA trotzdem unterzeichnet. Das Gesetz wurde auch von (demokratischen) Falken wie Joe Lieberman (5) mit durchgeboxt.

Tatsächlich hat kaum ein "Change" (Wandel) stattgefunden. Das Schlimmste am NDAA ist, dass er eine (illegale) Praxis, die schon bestand, nachträglich legalisierte. Die (bereits vorher angewandten rechtswidrigen) Methoden haben sich dadurch nicht geändert. Die Bestimmung, die in der Öffentlichkeit am meisten Aufmerksamkeit erregte, haben Sie schon erwähnt: die unbegrenzte Inhaftierung von US-Bürgern. Aber warum soll es überhaupt erlaubt sein, Bürger anderer Nationalitäten unbegrenzt wegzusperren? Das ist ein grober Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte und gegen geltende Gesetze, ein Rückfall hinter die aus dem 13. Jahrhundert stammende Magna Charta (6); dieser schwere Angriff auf die elementaren Bürgerrechte hat zwar unter Bush begonnen, wurde aber unter Obama fortgesetzt. Er wurde und wird von beiden Parteien unterstützt.

Zu den Tötungen (ohne Gerichtsverfahren) ist zu sagen, dass Obama diese weltweit betriebene Mordkampagne stark ausgeweitet hat. Bush hat zwar damit angefangen, aber Obama hat sie verstärkt und lässt auch US-Bürger ermorden. Auch das geschah wieder mit dem Einverständnis beider Parteien, nur bei der Ermordung des ersten US-Amerikaners gab es leise Kritik. Ich frage aber noch einmal: Wer gibt uns das Recht, überhaupt irgend jemanden zu ermorden? Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, der Iran ließe Mitglieder des Kongresses ermorden, die einen Angriff auf den Iran fordern. Würden wir das gutheißen? Der Iran hätte zwar gut zu rechtfertigende Gründe, wir würden sein Verhalten aber natürlich als eine Kriegshandlung ansehen.

Die wirkliche Frage ist doch: Darf in staatlichem Auftrag überhaupt gemordet werden? Die Regierung hat ausdrücklich bestätigt, dass Obama diese Morde persönlich anordnet, wobei die Begründung dafür sehr schwach ist. Wenn zum Beispiel über eine Drohne eine Gruppe von Männern beim Beladen eines Lastwagens beobachtet wird und der Verdacht besteht, dass sie feindliche Kämpfer sein könnten, glaubt man sie umbringen zu dürfen, weil sie als schuldig betrachtet werden; hinterher könnte sich aber herausstellen, dass sie völlig harmlos waren. Schon die Begründung der US-Regierung für diese Morde ist eine derart grobe Verletzung grundlegender Menschenrechte, dass sie völlig indiskutabel ist.

Die Erfordernis eines ordentlichen Gerichtsverfahrens besteht, seit die USA eine Verfassung haben, die besagt, dass niemand ohne Gerichtsverfahren seiner Rechte (zum Beispiel seines Rechtes auf Leben) beraubt werden darf; dieser Rechtsgrundsatz wurde - wie schon gesagt - bereits im 13. Jahrhundert in England formuliert. Deshalb erhebt sich die Frage: Darf überhaupt auf ein ordentliches Gerichtsverfahren verzichtet werden? Obamas De-facto-Justizminister Eric Holder (7) erklärte dazu, das ordentliche Gerichtsverfahren werde in diesen Fällen durch vorher von der Exekutive durchgeführte Beratungen ersetzt. Das ist noch nicht einmal ein schlechter Witz! Die britischen Könige des 13. Jahrhunderts hätten Holder applaudiert: "Wir müssen den Mord nur vorher bereden, dann gilt das schon als ordentliches Gerichtsverfahren." Auch diese Interpretation haben beide Parteien ohne Kontroverse akzeptiert.

Die gleiche Frage können wir auch zur (angeblichen) Ermordung Osama bin Ladens stellen (8). Ich sage bewusst "Ermordung". Wenn schwer bewaffnete Elitesoldaten einen unbewaffneten, sich nicht wehrenden Verdächtigen im Kreis seiner Frauen festnehmen sollen, ihn aber stattdessen erschießen und seinen Leichnam ohne vorherige Obduktion im Meer entsorgen, kann das nur Mord genannt werden. Ich habe bin Laden auch bewusst als "Verdächtigen" bezeichnet. Der Grund dafür ist ein anderer Rechtsgrundsatz, der auch auf das 13. Jahrhundert zurückgeht und besagt, dass ein Mensch so lange als unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld (gerichtlich) erwiesen ist. Davor steht er nur unter Verdacht. In den USA wurde Osama bin Laden im Zusammenhang mit den Anschlägen am 11.09. (2001) nie formell angeklagt, und ein wichtiger Grund für diese Unterlassung war, dass ihm die Verantwortung dafür nicht nachgewiesen werden konnte. (Auf dem Steckbrief, mit dem das FBI bin Laden gesucht hat, werden ihm diese Anschläge noch nicht einmal vorgeworfen. (9) Acht Monate nach dem 11.09. und nach seiner bis zu diesem Zeitpunkt intensivsten Untersuchung erklärte das FBI, es "vermute", dass die Anschläge in Afghanistan geplant und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Deutschland und natürlich in den USA vorbereitet worden seien - ohne bin Laden überhaupt zu erwähnen. Das war acht Monate nach den Anschlägen, und bis heute konnte das FBI den Verdacht gegen bin Laden nicht erhärten.

Ich selbst glaube, dass der Verdacht (gegen bin Laden) zu Recht bestand, es gibt aber einen gewaltigen Unterschied zwischen einer berechtigten Annahme und einer nachgewiesenen Schuld. Auch wenn bin Laden schuldig war, hätte er gefangen genommen und vor Gericht gestellt werden müssen. Das schreibt das anglo-amerikanische Recht vor, das sich in acht Jahrhunderten entwickelt hat. Er hätte nicht ermordet werden dürfen, und sein Leichnam hätte auch nicht ohne Autopsie beseitigt werden dürfen, obwohl das allgemein für gut befunden wurde. Ich habe zu den wenigen gehört, die einen kritischen Artikel über dieses (rechtswidrige) Vorgehen geschrieben haben und wurde dafür auch von linken Kommentatoren hart angegriffen; weil bin Laden im Verdacht stand, Verbrechen gegen die USA begangen zu haben, sei er unbestreitbar zu Recht ermordet worden. Diese auch unter Intellektuellen weit verbreitete Einstellung sagt viel über die erschreckende "moralische Verkommenheit" des ganzen intellektuellen Spektrums der USA aus. Dass Obama diese (illegale) Praxis auch noch ausgeweitet hat, sollte deshalb niemand überraschen. Die (innere) Fäulnis ist aber noch viel weiter fortschritten. (10)

Bailey:
Es sind gerade etwas mehr als zehn Jahre vergangen, seit die Bush-Administration ihre "Folter-Memos" (11) veröffentlicht hat. Damit wurde versucht, die Folterung von Häftlingen der CIA zu rechtfertigen, die im Rahmen des "Krieges gegen den Terror" (meist in anderen Staaten) gekidnappt (und völkerrechtswidrig in Geheimgefängnisse verschleppt) wurden (12). Der erschreckende Inhalt dieser Memos hat eine neue internationale Debatte über die Folter ausgelöst. Obwohl Präsident Obama versprochen hatte, alle illegalen Geheimgefängnisse zu schließen, scheint es auch heute noch solche "Black Sites" zu geben (13). Wie stehen Sie zu diesen CIA-Foltergefängnissen? Hat Obama, der 2008 auch versprochen hat, die CIA zu reformieren, sein Versprechen gehalten?

Chomsky: Es hat einige Präsidentenerlasse gegeben, in denen die schlimmsten Folterexzesse verurteilt wurden, (das berüchtigte US-Militärgefängnis) Bagram (in Afghanistan, (14) gibt es aber immer noch, und es wird auch heute noch nicht regelmäßig überprüft. Es ist wahrscheinlich das schlimmste Lager in Afghanistan. Auch Guantánamo wird weiterbetrieben, es ist aber eher unwahrscheinlich, dass dort noch schwer gefoltert wird, weil inzwischen zu viele Inspektionen stattfinden. Über die dort tätigen Militäranwälte dringen regelmäßig Informationen nach draußen, deshalb betrachte ich Guantánamo nicht mehr als Folterlager, aber immer noch als Gefangenenlager für illegal Verschleppte; außer Bagram könnte es noch weitere Lager geben, und auch die Verschleppungen scheinen in einem etwas geringeren Umfang als bisher weiterzugehen.

Die CIA verschleppt also Gefangene zum Foltern in andere Länder. Auch das ist seit der Vereinbarung der Magna Charta - die zum Fundament des anglo-amerikanischen Rechts wurde - untersagt. Schon in diesem Dokument wurde ausdrücklich festgehalten, dass niemand übers Meer ins Ausland gebracht und dort bestraft und gefoltert werden darf.

Verschleppungen führen aber nicht nur die USA durch. Sie kommen auch in Westeuropa, zum Beispiel in Großbritannien und Schweden vor. Deshalb sind die Sorgen derer, die befürchten, dass Julian Assange eine Auslieferung an Schweden droht, durchaus berechtigt. Auch Kanada und Irland waren in die Verschleppungen verwickelt; Irland gehört aber zu den wenigen Ländern, in denen es große Massenproteste gegen die über den Shannon Airport durchgeführten CIA-Verschleppungsflüge gab. Aus den meisten anderen betroffenen Staaten kam nur wenig oder überhaupt kein Protest. In letzter Zeit sind keine neuen Entführungsfälle mehr bekannt geworden, es würde mich aber nicht wundern, wenn es sie immer noch gäbe.

Bailey: Außer in den USA kommt es auch im Mittleren Osten immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen, und durch die Aufstände des Arabischen Frühlings hat sich deren Anzahl in vielen Staaten noch erhöht. Während die Diktatoren in Tunesien und Ägypten ohne Bürgerkriege gestürzt wurden, ist es in Libyen, Syrien und im Jemen zu schweren Kämpfen gekommen. Die USA und die NATO haben (nach der Intervention in Jugoslawien) in Libyen ein weiteres Mal in einen Bürgerkrieg eingegriffen, und nur der Widerstand Russlands und Chinas hat bisher ein ähnlich massives Eingreifen in Syrien verhindert. In beiden Fällen haben die Rebellen die USA und Europa um militärische Hilfe gebeten, ja sogar darum gebettelt; an Verhandlungen mit ihren diktatorischen Gegnern waren sie absolut nicht interessiert, auch wenn die Hilfe von außen auf sich warten ließ. Was halten Sie von militärischen Eingriffen, wie sie in Libyen stattfanden und für Syrien immer wieder gefordert werden? Ist es moralisch gerechtfertigt, Texaner und Soldaten aus Louisiana wegen der Konflikte in Libyen und Syrien in den Kampf zu schicken? Oder anders gefragt, ist der Verzicht auf eine Militärintervention zu verantworten, wenn ganze Städte wie Misrata, Bengasi, Aleppo oder Homs völlig zerstört und mehrere zehntausend Zivilisten deswegen getötet werden könnten?

Chomsky: Fangen wir mit Syrien an. Einer Ihrer Thesen kann ich nicht zustimmen, denn ich bezweifle stark, dass die ablehnende Haltung Russlands und Chinas ein Eingreifen der USA oder des gesamten Westen in Syrien bisher verhindert hat. Ich habe sogar den Verdacht, dass die USA, Großbritannien und Frankreich das russische Veto begrüßt haben, weil es ihnen den Vorwand zum Nichtstun geliefert hat. Sie konnten einfach erklären: "Wie sollen wir eingreifen? Die Russen und Chinesen haben es ja verhindert!" Wenn die USA und die NATO tatsächlich hätten intervenieren wollen, hätten sie sich einfach über das Veto der Russen und Chinesen hinweggesetzt. Das haben sie doch schon öfter getan; sie wollten einfach bisher nicht militärisch eingreifen und wollen das wohl auch jetzt noch nicht. Die strategischen Befehlszentralen ihrer Streitkräfte und Geheimdienste sind noch immer strikt dagegen. Einige sind das aus militärtechnischen Gründen, andere lehnen eine Intervention ab, weil sie nicht genau wissen, welche oppositionellen Kräfte zur Durchsetzung eigener Interessen unterstützt werden sollen. Sie mögen Assad nicht besonders, obwohl er den USA und Israel ganz nützlich war, wegen der an der Rebellion beteiligten islamistischen Gruppierungen mögen sie aber auch die Opposition nicht besonders und ziehen es deshalb vor, noch am Spielfeldrand zu bleiben.

Interessant ist, dass Israel nichts tut. Dabei müsste es noch nicht einmal viel sein. Israel könnte Truppen auf die widerrechtlich annektierten, eigentlich syrischen Golan-Höhen schicken, die nur etwa 40 Meilen (64 km) von Damaskus entfernt sind; Assad wäre dann gezwungen, eigene Truppen an diese Grenze zu verlegen, die er aus den von Rebellen bedrohten Gebieten abziehen müsste. Israel könnte also die Rebellen unterstützen, ohne selbst einen einzigen Schuss abfeuern und ohne die Grenze überschreiten zu müssen. Davon war aber bisher noch nicht einmal die Rede, und ich denke, das zeigt, dass Israel, die USA und ihre Verbündeten zur Wahrung ihrer eigenen Interessen das Assad-Regime jetzt noch nicht beseitigen wollen. Dabei spielen humanitäre Gesichtspunkte überhaupt keine Rolle.

Was Libyen angeht, müssen wir etwas differenzieren, weil es in Libyen eigentlich zwei Interventionen gegeben hat. Die erste fand mit Billigung des UN-Sicherheitsrates statt und war durch die UN-Resolution 1973 legitimiert. Diese sah nur die Errichtung einer Flugverbotszone, die Durchsetzung einer Waffenruhe und den Beginn von Verhandlungen und sonstige diplomatische Initiativen vor. (15)

Bailey:
Das war die Intervention, die damit gerechtfertigt wurde, dass die Zerstörung Bengasis verhindert werden müsse.

Chomsky: Nun, wir wissen nicht, ob Bengasi (durch Luftangriffe der libyschen Luftwaffe) zerstört worden wäre, eigentlich sollte ja auch nur ein möglicher Angriff auf Bengasi verhindert werden. Man könnte zwar darüber streiten, wie wahrscheinlich ein solcher Angriff war, ich persönlich finde allerdings, es war legitim, dass versucht wurde, mögliche Gräueltaten zu verhindern. Die (vom UN-Sicherheitsrat autorisierte) Intervention dauerte aber nur etwa fünf Minuten. Gleich nach deren Beginn setzten sich die NATO-Mächte über die UN-Resolution hinweg - zuerst Frankreich und Großbritannien und dann auch die USA; ihre Flugzeuge wurden zur Luftwaffe der Rebellen. Das war in der UN-Resolution nicht vorgesehen. Die ließ nur "alle zum Schutz der Zivilbevölkerung notwendigen Schritte" zu; es ist aber ein großer Unterschied zwischen dem Auftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen, und der Absicht der NATO, den Rebellen eine eigene Luftwaffe zu verschaffen. Möglicherweise war es wünschenswert, den Aufständischen beizustehen. Weil die UN-Resolution dazu aber nicht ermächtigte, verstieß die den Rebellen gewährte militärische Unterstützung eindeutig gegen den (vom UN-Sicherheitsrat) erteilten Auftrag. Dabei gab es auch andere Optionen. Gaddafi hat (zum Beispiel) eine Waffenruhe angeboten. Ob sein Angebot wirklich ernst gemeint war, kann niemand wissen, weil es sofort zurückgewiesen wurde.

Das Verhalten der NATO-Mächte wurde von den meisten andern Staaten der Welt missbilligt. Es gab kaum Unterstützung dafür. Die Afrikanische Union (16), der Libyen als afrikanisches Land angehört, lehnte die (eigenmächtige) Erweiterung der Intervention strikt ab, forderte eine sofortige Waffenruhe und bot sogar die Entsendung einer eigenen Friedenstruppe an, die den Konflikt (zwischen Gaddafi und den Rebellen) schlichten sollte.

Die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die zufällig zur gleichen Zeit eine Konferenz abhielten, verurteilten die NATO-Intervention und forderten diplomatische Initiativen, Verhandlungen und eine Waffenruhe. Das benachbarte Ägypten hielt sich zurück. Das NATO-Mitglied Deutschland lehnte es ab, sich an der Intervention zu beteiligen. Auch Italien verweigerte sich zunächst, schloss sich aber später den Interventionisten an. Auch die Türkei war erst gegen ein militärisches Eingreifen, machte aber später ebenfalls mit. Die meisten Staaten verurteilten die Intervention, die hauptsächlich von den traditionell imperialistischen Mächten Frankreich, Großbritannien und den USA forciert wurde.

Die NATO-Intervention verursachte eine humanitäre Katastrophe. Vielleicht wäre es ohnehin dazu gekommen, aber sie entwickelte sich vor allem aus den Angriffen auf Bani Walid und Sirte, die letzten Städte, die zu Gaddafi hielten. Beide Städte sind wichtige Zentren des Warfalla-Stammes, des größten libyschen Stammes. Libyen besteht aus vielen Stammesgesellschaften, und der Warfalla-Stamm gehört zu den bedeutendsten. Die Zerstörung ihrer Zentren hat die Angehörigen dieses Stammes sehr erbittert. Hätte die Verwüstung der beiden Städte nicht durch die von der Afrikanischen Union und den BRICS-Staaten vorgeschlagenen diplomatische Bemühungen und Verhandlungen verhindert werden können? Wir wissen es nicht.

Es ist auch erwähnenswert, dass sich die International Crisis Group (17), eine sehr angesehene nichtstaatliche Organisation, die Lösungsvorschläge für internationale Konflikte und Krisen erarbeitet, gegen eine Intervention ausgesprochen hat. Auch sie setzte sich vehement für Verhandlungen und diplomatische Initiativen ein. Über die Einwände der Afrikanischen Union und anderer Organisationen wurde im Westen allerdings kaum berichtet. Wen interessiert das schon, was die sagen? Wenn ihre Vorschläge überhaupt in den Medien Erwähnung fanden, wurden sie mit der Begründung niedergemacht, diese Länder hätten eben enge Beziehungen zu Gaddafi unterhalten. Das hatten sie wirklich, aber das Gleiche galt doch bis kurz vor der Intervention auch für Großbritannien und die USA. Die Intervention hat nun mal stattgefunden, und jetzt hoffen alle, dass am Ende noch alles gut wird, auch wenn es nicht so aussieht. In einer der letzten Ausgaben der London Review of Books ist ein Bericht von Hugh Roberts erschienen, der damals in der International Crisis Group für Nordafrika zuständig und darauf spezialisiert war. Er verurteilt die Intervention und beschreibt ihr Ergebnis als totales Chaos, das wenig Hoffnung auf die Errichtung eines in Ansätzen demokratischen, einheitlichen Staates lässt. (18)

Das hört sich nicht besonders gut an, und wie steht es mit den anderen Staaten? Am wichtigsten für die USA und den gesamten Westen sind die ölreichen Diktaturen, und die sind nach wie vor sehr stabil. Auch dort gab es Versuche, sich an den Arabischen Frühling anzuhängen, die wurden aber schnell und rücksichtslos unterdrückt - ohne einen einzigen Einwand des Westens. Obwohl es dabei in den Schiiten-Gebieten im Osten Saudi-Arabiens und in Bahrain zu heftiger Gewaltanwendung kam, erhielten die Diktatoren von westlichen Mächten allenfalls einen Klaps auf die Finger. Der Westen will, dass die Öldiktaturen erhalten bleiben, weil ein Großteil seiner Macht auf deren Öl aufgebaut ist.

In Tunesien, das immer noch stark unter französischem Einfluss steht, wurde die Diktatur bis zu ihrem Ende von Frankreich gestützt - auch dann noch, als es schon überall Demonstrationen gab. Erst in letzter Sekunde musste der Lieblingsdiktator (Frankreichs) dann doch gehen. In Ägypten, das stärker unter dem Einfluss der USA und Großbritanniens steht, war das genau so. Obama unterstützte den Diktator Mubarak bis zur letzten Minute - bis ihn die ägyptische Armee fallen ließ. Erst als Mubarak nicht mehr zu halten war, wurde er zum Rücktritt genötigt, um die Installierung eines ähnlichen Regimes (unter Mursi) möglich zu machen. Das geschah ganz routinemäßig. Es ist das Standardverfahren, das immer zur Anwendung kommt, wenn ein Lieblingsdiktator (des Westens) in Schwierigkeiten gerät. So läuft das immer ab. Der amtierende Diktator wird immer bis zum Schluss unterstützt, unabhängig davon, wie grausam und blutdurstig er ist. Erst wenn sich die Armee oder die reiche Oberschicht von ihm abwenden, darf er sich - manchmal unter Mitnahme der halben Staatskasse - in ein anderes Land absetzen; seine westlichen Unterstützer entdecken plötzlich ihre Liebe zur "Demokratie", versuchen aber das alte System wieder herzustellen. Ziemlich genau das spielt sich gerade in Ägypten ab.



Das Magazin TORTURE, Asian and Global Perspectives (19) erscheint als Print- und Online-Ausgabe, und wird von der Asian Human Rights Commission in Hongkong (20) und dem Danish Institute Against Torture / DIGNITY in Dänemark (21) herausgegeben. Die beiden Herausgeber haben eine neue Initiative gestartet, die sich auf die Folter und damit verwandte Probleme konzentriert. Autoren, die Artikel zu diesem Thema veröffentlichen wollen, können über torturemag@ahrc.asia mit dem Magazin Verbindung aufnehmen.

Quelle: Luftpost. Originalartikel: US Intellectual Class Is Morally Degenerate . Übersetzung, Ergänzungen und Links in Klammern: Wolfgang Jung.



Fußnoten
1. s. dazu auch http://de.wikipedia.org/wiki/National_Defense_Authorization_Act und http://www.gpo.gov/fdsys/pkg/BILLS-112hr1540enr/pdf/BILLS-112hr1540enr.pdf .
2. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Anwar_al-Awlaki .
3. s. http://de.wikipedia.org/wiki/USA_PATRIOT_Act .
4. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Transportation_Security_Administration .
5. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Joe_Lieberman .
6. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Magna_Carta .
7. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Eric_Holder .
8. s. dazu auch http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_11/LP07711_050511.pdf ,
http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_11/LP07811_060511.pdf , http://www.luftpostkl.de/luftpost-archiv/LP_11/LP08011_110511.pdf und http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_11/LP08711_240511.pdf .
9. s. http://www.fbi.gov/wanted/topten/usamabin-laden .
10. Chomsky zweifelt die offizielle 9/11-Story der US-Regierung also immer noch nicht an. Luftpost hat allerdings große Zweifel daran und diese unter http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_12/LP16112_110912.pdf ausführlich begründet.
11. s. http://en.wikipedia.org/wiki/Torture_Memos .
12. s. dazu auch http://www.luftpostkl.de/luftpost-archiv/LP_06/LP04706_280406.pdf .
13. s. dazu auch http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_12/LP15112_240812.pdf .
14. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rgef%C3%A4ngnis_Bagram .
15. Weitere Infos zu der Resolution sind aufzurufen unter http://de.wikipedia.org/wiki/Resolution_1973_des_UN-Sicherheitsrates .
16. s. dazu auch http://de.wikipedia.org/wiki/Afrikanische_Union .
17. s. dazu auch
http://de.wikipedia.org/wiki/International_Crisis_Group .
18. Der Artikel ist nachzulesen über http://www.lrb.co.uk/v34/n19/hugh-roberts/western-recklessness .
19. s. http://www.humanrights.asia/resources/journals-magazines/torture-asian-and-global-perspectives/torture-asian-perspectives .
20. s. http://www.humanrights.asia/ .
21. s. http://www.dignityinstitute.org/ .

➜ http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/007692.html#ixzz2GplFAezV

Quelle: www.hintergrund.de

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