Luzifer
kontrollieren
Robert C. Koehler
Der Präsident
verhandelt über unseren Abzug aus Afghanistan,
verkündet, dass das Ziel erreicht wurde – und die
Kriege des vergangenen Jahrzehnts gehen weiterhin dem
Ende zu.
Hinter uns
werden wir ein instabiles Land lassen mit einer der
höchsten Kindersterblichkeitsraten der Welt und
hunderten von bewaffneten Gruppen von Kämpfern. Wir
haben das Land weder gerettet noch wieder aufgebaut noch
irgendein Ziel erreicht, das irgendwie auch nur
annähernd die menschlichen und finanziellen Kosten
dieses Unternehmens rechtfertigen könnte. Wir haben
einfach verloren.
Aber wir sind
das mächtigste Land auf dem Planeten. Wie ist das
möglich? Und, wie Tom Engelhardt fragt, „wer genau
hat uns besiegt? Wo genau befindet sich der
triumphierende Gegner?“
Er fährt fort,
in einem Artikel, der diese Woche in CommonDreams
erschienen ist: „Haben wir uns auf irgendeine
bizarre Art und Weise selbst bekämpft und haben
verloren? Immerhin starben mehr amerikanische Soldaten
durch Selbsttötung als auf dem Schlachtfeld in
Afghanistan, und eine verblüffende Zahl von Amerikanern
wurde in „Grün gegen Blau“ oder „Insider“-Attacken
durch afghanische „Verbündete“ getötet und
nicht durch diese aufgesplitterte Bewegung, die wir noch
immer die Taliban nennen.“
Haben wir uns
selbst bekämpft und haben wir verloren? Das ist eine
Jahrtausendfrage – eine Frage, bei der es um die
Zukunft der Menschheit geht. Ein reiches, arrogantes und
unglaublich mächtiges Land nützt eine günstige
Gelegenheit der Rache, verfolgt seine globalen
Interessen, marschiert ein in ein armes rückständiges
Land, und eineinhalb Jahre danach in ein weiteres. Es
steckt Billionen von Dollars in das Abenteuer und setzt
die höchstentwickelten Waffen ein, die die Welt je
gesehen hat. An der Heimatfront wird der Krieg von
mindestens 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Es
ist ein guter Krieg, ein gerechter Krieg, von der
wunderbaren Werbeabteilung des militärisch-industriellen
Komplexes als „Krieg gegen den Terror“
ausgerufen ... ein Krieg gegen das Böse selbst.
Und wir haben
verloren. Oder irgendwie verloren – zumindest in dem
Sinn, dass wir nicht gesiegt haben. Andrew Bacevich
schrieb 2010: „2007 gab das amerikanische
Offizierskorps die Hoffnung auf den Sieg auf, allerdings
ohne den Krieg aufzugeben. Zuerst verlagerten sich die
Prioritäten im Irak, dann in Afghanistan. Hochrangige
Generäle schoben ihre Siegeserwartungen auf die lange
Bank ... stattdessen bemühten sie sich, nicht zu
verlieren. In Washington wie in den Kommandostellen des
Militärs der Vereinigten Staaten von Amerika mauserte
sich die Vermeidung von totaler Niederlage zum neuen
Goldstandard für Erfolg.“
Sein Artikel
trug die Überschrift: „Wird Krieg obsolet?“
Das heißt, wird Krieg zu einem ineffektiven Mittel nicht
nur zur Erreichung der Ziele der eigenen Propaganda (Sieg
über das Böse), sondern der wirklichen Ziele der
regionalen Dominanz, der Plünderung von natürlichen
Ressourcen, der Eingrenzung geopolitischer Rivalen? Und
wenn’s so ist, spielt das eine Rolle?
Jenseits von
solchen Fragen lauert nach meinem Gefühl eine größere
Frage: Könnte es sein, dass Krieg nicht etwas ist, das
wir führen, sondern vielmehr eine Kraft, die uns führt?
Und wenn das der Fall ist, dann spielt es keine besondere
Rolle, ob wir siegen oder verlieren, weil wir das nicht
im Griff haben, zumindest nicht so, wie wir glauben.
Krieg war obsolet zumindest das letzte Jahrhundert lang,
da der Schaden, den er bewirkt hat, Sieger und Verlierer
gleichermaßen erschüttert hat, fast bis an die Grenze
des gegenseitigen Suizids – allerdings nicht die
Vereinigten Staaten von Amerika, die aus dem Zweiten
Weltkrieg als mächtig und prosperierend und überhaupt
als Weltmeister ausgestiegen sind. Es bedurfte etwa eines
halben Jahrhunderts, bis die Verlierernatur des Krieges
auch uns erfasste, und wir beginnen konnten, auf seine
Obsoleszenz draufzukommen.
Vielleicht ist
jetzt eine gute Zeit, um mit der Bewertung der Natur
unseres Verlustes im Krieg gegen den Terror zu beginnen,
über die Nichterreichung geopolitischer Ziele und die
Nichterfüllung unserer Mission hinaus, was immer diese
auch war. Sicher schließt dieser Verlust Kosten in Höhe
von Billionen Dollar ein, wodurch er enorm zum nationalen
Bankrott beiträgt.
Und er schließt
auch ein die Tausenden amerikanischen im Kampf Getöteten
und die Hunderttausenden sowohl physisch als auch
psychisch im Zuge ihrer ausgedehnten Einsätze
verwundeten Soldaten, oder diejenigen, die leiden an
einer Reihe von mysteriösen Nerven-, Atemwegs- und
multiplen anderen Krankheiten – jetzt bezeichnet als
Multisystem-Krankheit, von der in einem Bericht des
Bundesinstituts für Medizin gesagt wird, dass es sich um
die gleichen Symptome handelt, an denen einige
hunderttausend Veteranen aus dem Golfkrieg 1991 noch
immer leiden – die das Resultat der Gifthölle sind,
zu der die moderne Kriegsführung ihre Schlachtfelder
macht.
Während wir
damit beschäftigt waren, uns alle diese Schäden
zuzufügen, fügten wir natürlich unendlich mehr
Schäden den Ländern zu, in die wir einmarschiert sind,
töteten Hunderttausende, vertrieben Millionen und
vergifteten den Irak und Afghanistan mit radioaktivem
Abfall der Uranmunition und den Giften irregulärer
Verbrennungsstätten, nebst vielem anderem. 2010
veröffentlichte das International Journal of
Environmental Research and Public Health die Ergebnisse
einer Studie, aus der hervorgeht, dass in Fallujah im
Irak die Quoten von Krebs, Leukämie und
Kindersterblichkeit höher sind als in Hiroshima und
Nagasaki 1945.
Wird Krieg
obsolet? Wenn der giftige Nachlass des Kriegs nur vom
besiegten „Feind“ ertragen werden muss, können
sich die Sieger immerhin freuen. Aber heutzutage gibt es
keinen Jubel auf keiner Seite des einstigen Kriegs gegen
den Terror. Die passende Frage ist: Wie hören wir auf
mit unserer verrückten Vorbereitung auf zukünftige
Kriege?
Und da gibt es
nur eine Antwort: Aufhören mit der Erfindung von
Feinden, die wir dann enthumanisieren. Sobald wir mit dem
Enthumanisieren anfangen, verlieren wir – nicht nur
im übertragenen Sinn, sondern buchstäblich, und das auf
nahezu unberechenbare Weise. Philip Zimbardo prägte den
Begriff „Luzifer-Effekt,“ um die sadistische
Korrumpierung zu beschreiben, die wohlmeinende Männer
und Frauen durchmachen, wenn ihnen überwältigende Macht
über andere gegeben wird. Wir führen Krieg in der
Meinung, dass wir den Luzifer-Effekt im Griff haben.
Damit liegen wir immer falsch.
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Freitag, 1. Februar 2013
Luzifer kontrollieren
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